Autonomes Exoskelett für Kinder geht an den Start
Roboter als Medizinprodukt ermöglichen eine fortschrittliche Physiotherapie für Kinder
Im Norden Frankreichs träumte Luc Masson, Präsident von INJENO Association, einst davon, dass seine neunjährige Tochter einmal gehen können würde. Inès hat mehrere neurologische Krankheiten wie Epilepsie, die ihre motorischen Fähigkeiten beeinträchtigen. Sie ist auf einen Rollstuhl mit Kopfstütze angewiesen und benötigt Unterstützung, um sich in ihrer Umgebung zu bewegen.
2010 wandte sich Masson an die Gruppe für Robotik und Mechatronik von Laurent Peyrodie an der JUNIA HEI Graduate School of Science and Engineering, die an der Katholischen Universität Lille angesiedelt ist. Er stellte sich ein autonomes Exoskelett für die unteren Gliedmaßen vor, das von Kinderärzten als Hilfsmittel in der Physiotherapie eingesetzt werden könnte. Zudem würde es Kindern wie seiner Tochter die Möglichkeit geben, die Welt auf eine neue Art zu erleben.
„Luc ist voller Begeisterung und Interesse“, erinnert sich Peyrodie, der auch die Abteilung für biomedizinische Signalverarbeitung in Lille leitet. „Er fragte: ‚Können Sie etwas für uns tun?‘ Mit dieser Frage im Hinterkopf haben wir verschiedene Studien mit Studierenden an der Universität initiiert.“ Peyrodie stellte den Wissenschaftler Yang Zhang nach dessen Promotion als Leiter der mechanischen und elektronischen Entwicklung ein.
Das JUNIA HEI Motion Project vereint Techniker, Maschinenbau- und Biomedizin-Ingenieure sowie medizinisches Fachpersonal, um mechanisierte Orthesen für Kinder mit schweren neurologischen Störungen zu realisieren. Mehr als ein Dutzend gewerbliche, gemeinnützige und akademische Partner schlossen sich dem Vorhaben an. Darüber hinaus sicherte sich das Projekt 7,4 Millionen Euro an Forschungsmitteln aus einem europäischen Programm.
Peyrodie und Zhang erstellten Prototypen aus 3D-gedruckten Teilen, vibrationsarmen Gleichstrommotoren und mit integrierten Sensoren. Sie beschleunigten die Entwicklung mithilfe von MATLAB®, Simulink® und Simscape Multibody™, um so die Motordynamik zu modellieren und Motorregler zu entwickeln. Für effiziente Echtzeittests auf einem Hardware-Prototyp wandte sich das Team an den MathWorks-Partner Speedgoat.
Kürzlich lief eine zierliche Kollegin, die an dem Projekt mitwirkt, einige Schritte mit dem neuesten Prototyp. In den kommenden Monaten beabsichtigt das Team, eine Genehmigung für die Testphase des Exoskeletts bei Kindern zu beantragen.
Der Start
Das Motion Project beruft sich auf schwedische Untersuchungen, wonach 30% der Kinder mit Zerebralparese (CP) im Alter von fünf Jahren noch nicht in der Lage sind, zu laufen. Weitere 16% sind auf Gehhilfen angewiesen. Ausgehend von diesen Zahlen schätzte das Projektteam, dass die Exoskelett-Technologie etwa 6.500 Kindern unter 10 Jahren in Europa zugutekommen könnte. Und das gilt nur für jene mit CP. Aber es gibt noch viele andere Erkrankungen, die die Bewegungsfähigkeit der Beine beeinträchtigen.
Trotz dieses Versorgungsbedarfs werden Exoskelette immer noch eher als Gerätschaften für Erwachsene betrachtet, wie etwa jenes, das der fiktive Iron Man trägt, oder die Exoskelette für den technischen Einsatz, die zum Schutz vor Verletzungen entwickelt wurden. In den USA hat die US Army den Human Universal Load Carrier (HULC) entwickelt, der bis zu 91 Kilogramm heben kann, und plant, im nächsten Jahr ein neues, noch flexibleres und leichteres Exoskelett in den Einsatz zu schicken.
Die Fertigung eines Exoskeletts, das für den medizinischen Gebrauch bei Kindern mit Mehrfachbehinderungen, darunter auch solche mit Kommunikationsschwierigkeiten, zugelassen ist, bedarf einer gründlichen klinischen Prüfung der Sicherheitsanforderungen. „Die Struktur in einer klinischen Umgebung an Kindern zu testen, ist extrem schwierig, weil wir nachweisen müssen, dass keinerlei Risiko oder Gefahr für sie besteht“, betont Peyrodie.
Die Einholung der entsprechenden Genehmigung durch eine Ethikkommission sei ein entscheidender Schritt, ergänzte er. Anschließend durchläuft das Medizinprodukt einen langwierigen Entscheidungsprozess bei der Europäischen Arzneimittelagentur, bevor es mit dem CE-Zeichen versehen werden kann.
Eine weitere Herausforderung bei der Entwicklung pädiatrischer Exoskelette für die unteren Gliedmaßen ist der Kostenfaktor. Dies beruhte auf der Annahme, dass schnell wachsende Kinder unterschiedliche Systeme benötigen, was wiederum die Kosten vervielfacht. Aus diesem Grund ist das einzigartige System des Motion Project so konzipiert, dass es sich an unterschiedliche Körpergrößen und -gewichte anpassen lässt.
Das JUNIA HEI Motion Project richtet sich an Acht- bis Zwölfjährige, die ein breiteres Spektrum an Behinderungen aufweisen, zu denen auch Querschnittslähmungen der unteren Gliedmaßen gehören. Hierbei muss die Struktur auf unterschiedlich große und bis zu 50 Kilogramm schwere Personen anzupassen sein.
„Das Ganze ist ein ziemlich kompliziertes Projekt“, erklärt Peyrodie. „Es ist ähnlich wie bei einem Start-up: Wir mussten einen Weg finden, den Prototyp innerhalb kürzester Zeit mit nur einer Handvoll Leute zu bauen.“
Interreg 2 Seas, ein Programm der Europäischen Territorialen Zusammenarbeit, das das Gebiet zwischen Ärmelkanal und Nordsee abdeckt, hat im Zeitraum 2014 bis 2020 in zahlreiche nachhaltige und integrative Projekte der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit investiert. Im Rahmen des Programms wurden 2019 auch Fördermittel für das Motion Project bewilligt. Obwohl sich der ursprüngliche Zeitplan für das Projekt während der Pandemie leicht nach hinten verschoben hatte, musste das Team dennoch zügig mit der Prototypentwicklung beginnen.
Als Einheit gehen
Die bionische Nachbildung des Gehens erfordert die Konstruktion eines ausgeklügelten Robotersystems, das so fehlerresistent ist, dass junge Menschen und ihre Betreuungspersonen seiner autonomen Funktionsweise vollständig vertrauen können. Zudem muss das Medizinprodukt so intuitiv zu bedienen sein, dass es von Therapeuten sicher angewendet werden kann.
Zunächst versuchten die Wissenschaftler, ihr Exoskelett in C++ zu entwickeln, aber der manuelle Codierungsprozess gestaltete sich langwierig. „Das war in der Zeit, die uns für das Projekt zur Verfügung stand, unmöglich zu schaffen“, erinnert sich Peyrodie. „Ein Projektpartner an der KU Leuven in Belgien verwendete MATLAB und Simulink in Kombination mit Speedgoat® – eine zeitsparende Lösung.“
Das Duo entschied sich für Model-Based Design mit MATLAB und Simulink. „MATLAB erlaubt Massenberechnungen, bei denen man einfach auf den Namen der Funktion tippen und sie dann direkt berechnen kann“, so Zhang. „Bei der Entwicklung in C++ muss man eine Menge Code eingeben, um eine Funktion zu realisieren. Model-Based Design mit MATLAB und Simulink diente uns als wirklich zeitsparendes Tool.“
Mithilfe von Simscape Multibody konstruierten sie ein dynamisches Modell der Motoren ihres Exoskeletts anhand einer kindgroßen Schaufensterpuppe und wandten zukünftige Szenarien in der Simulationsumgebung an. Dadurch war es möglich, die Parameter zu verstehen, die ihre Exoskelettmotoren benötigen, und die Liste der Kandidaten einzugrenzen. Peyrodie und Zhang entschieden sich schließlich für bürstenlose Motoren von Maxon, vor allem, weil die Treiber des Unternehmens über das Industrieprotokoll Controller Area Network (CAN) kommunizieren und sich problemlos in das offene Echtzeitnetzwerk EtherCAT integrieren lassen.
Hätten die Wissenschaftler die Metallkomponenten des Exoskeletts von Anfang an mit CNC-Maschinen bearbeitet, wäre es ihnen nicht möglich gewesen, spontane Änderungen vorzunehmen. Stattdessen orderte das Team maßgefertigte 3D-gedruckte Teile über einen Online-Marktplatz und begann zunächst mit Kunststoff für die ersten verkleinerten Prototypen zu arbeiten. Nachdem sie die passenden Motoren ausgewählt hatten, war das Team zuversichtlich, dass es zu den Metallkomponenten in voller Größe übergehen konnte.
Die Wissenschaftler statteten jede Fußplatte mit Drucksensoren und einem CAN-Bus sowie mit Trägheitsmessgeräten (IMUs) aus. Mit einer zusätzlichen IMU im Rücken des Exoskeletts konnte das Team die Körperhaltung messen. Insgesamt verfügt das Exoskelett über sechs bewegliche Freiheitsgrade mit mechanisch begrenzten Bereichen.
Ein autonomes Exoskelett funktioniert nicht ohne ein effektives Kommunikationssystem, das die Motoren und Sensoren miteinander verbindet. „Unsere Wahl fiel auf Simulink Real-Time™, da man damit jedes beliebige Modell und jeden gewünschten Regelungsalgorithmus entwickeln und umgehend auf einen Prototyp anwenden kann“, erläutert Zhang. „Zudem kommt ein industrielles Hochgeschwindigkeits-Kommunikationsprotokoll zum Einsatz.“
Das in der Schweiz ansässige Unternehmen Speedgoat stellt MATLAB- und Simulink-kompatible Testsysteme her, darunter eine Echtzeit-Zielmaschine, die so klein ist, dass Peyrodie und Zhang sie in den Prototyp einbauen und über ein Internetkabel mit ihrem Computer verbinden können. Mit dem System von Speedgoat, das auch mit Maxon-Motortreibern kompatibel ist, konnte das Team seine Regelungsentwürfe innerhalb kürzester Zeit simulieren und testen.
Zu Beginn der Pandemie gab es nur begrenzten Zugang zum Campus der Universität. Die Präsenzarbeit wurde eingestellt, allerdings konnten die Wissenschaftler einige Simulationen und Entwicklungen per Fernzugriff realisieren. „Unsere Arbeit ging weiter“, berichtet Zhang. „Es gibt immer kleine Anpassungen und Änderungen, um den Prototyp noch besser zu machen.“
Neue Wege beschreiten
Das Exoskelett enthält ein sensorisches System, das Trägheitsmessgeräte, Encoder zur Winkelsteuerung an den Gelenken und einen Bodenreaktionskraftsensor umfasst. Vier Sensoren in jedem Fuß des Exoskeletts erkennen, wo der Mensch mit dem Fuß auftritt – ein wichtiger Faktor, um das Gleichgewicht zu halten.
Mit MATLAB und Simulink konnte die gesamte Prototyping-Zeit um die Hälfte reduziert werden.
„Der von uns entwickelte Regelungsalgorithmus für die Gewichtsverlagerung bedeutet, dass wir, bevor wir einen Schritt machen, die Masse auf den vorderen Fuß verlagern und dann den freien Fuß einfach anheben, um automatisch vorwärts zu schreiten“, fasst Zhang zusammen. „Da wir an jedem Fuß Sensoren haben, wissen wir, ob das Gewicht verlagert wurde. Wenn der Vorgang erfolgreich durchgeführt wurde, wird automatisch der nächste Schritt eingeleitet.“ Für die Zukunft ist die Entwicklung eines Regelungsalgorithmus geplant, mit dem das Exoskelett bei Bedarf die Schritte vergrößern und so die Stabilität erhöhen kann.
Das automatische Gehen war in der ursprünglichen Spezifikation nicht vorgesehen, aber Klinikärzte, die mit dem Projektteam zusammenarbeiteten, wiesen darauf hin, dass Menschen normalerweise zwischen den Schritten nicht komplett zum Stehen kommen. Laut Peyrodie war die Integration der Automatisierung durch die Verwendung von Sensoren und MATLAB viel einfacher als der Versuch, diese selbst zu programmieren.
„Wenn wir mit C++ oder C-Sharp entwickeln würden, bräuchten wir Spezialisten für Codierungssysteme“, führte Peyrodie aus. Zhang stimmte dem zu und schätzte, dass MATLAB und Simulink die gesamte Prototyping-Zeit um die Hälfte reduziert haben.
Daneben erstellten Peyrodie und Zhang mit dem MATLAB App Designer eine Benutzeroberfläche, mit der Klinikärzte und Partner das Exoskelett testen können. Das Feedback des medizinischen Fachpersonals ist von entscheidender Bedeutung, insbesondere in Anbetracht der unterschiedlichen nationalen Rehabilitationskonzepte. Peyrodie wies darauf hin, dass Physiotherapeuten in Frankreich die Stimulation der Gliedmaßen in regelmäßigen Abständen favorisieren, während man in Polen den Schwerpunkt auf die tägliche Bewegung legt. Viele verfügen einfach nicht über genügend Daten zur Orientierung.
Mehr als Bewegung
Neue Erkenntnisse könnten sich abzeichnen. Der belgische Motion-Project-Partner Centexbel arbeitet an einem intelligenten T-Shirt mit integrierten Sensoren, die Körpertemperatur, Herzfrequenz und Bewegungsradius messen. Andere Partner beschäftigen sich mit der Signalverarbeitung zur Erkennung des Stressniveaus und entwickeln eine grafische Benutzeroberfläche zur Anzeige der Daten. Das Kleidungsstück verspricht, weit weniger störend zu sein als herkömmliche Elektroden.
„Unser Ziel ist es, das Stressniveau des Kindes beim Gehen mit unserem Exoskelett zu bewerten. Dieser Faktor ist entscheidend dafür, ob ein solches System angenommen wird oder nicht“, erläutert Peyrodie.
Ihr Exoskelett hat die elektrischen Tests bestanden und soll nun in einem Rehabilitationszentrum in den Niederlanden getestet werden, in dem die Ärzte bereits Erfahrung mit der Robotertherapie für Erwachsene haben. Die ethische Zulassung zu erhalten, nimmt einige Zeit in Anspruch, aber Peyrodie betont, dass diese Phase wichtig sei, um die Effizienz und Sicherheit des Systems zu demonstrieren. Wenn alles erfolgreich verläuft, soll noch in diesem Winter eine klinische Studie mit Kindern anlaufen.
Das Team hat den leidenschaftlichen Appell von Luc Masson nie vergessen.
In Zukunft wird das Exoskelett nach Ansicht des Projektteams zwei Funktionen erfüllen. „Wir hoffen, dass es für das Rehabilitationstraining genutzt werden kann, damit die Kinder ihre Gehfähigkeit behalten oder wiedererlangen können“, so Zhang. Der andere Verwendungszweck hingegen ist emotionaler. „Wie bei Inès, die das Gefühl des Gehens psychisch erleben konnte. Denn das könnte sie einfach glücklich machen.“
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