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Kapitel 3

Nutzung von KI zur Modellierung mit reduzierter Ordnung bei komplexen Systemen


Die Systemkomplexität wird zunehmend größer. Autonome Systeme ermöglichen es Fahrzeugen, in unvorhersehbaren Umgebungen sicher zu navigieren. Windturbinen überwachen sich selbst mittels digitaler Zwillinge auf eventuelle Wartungsanforderungen. Mit intelligenten Endgeräten lassen sich Schlafaktivitäten messen, Fotos zuordnen und sogar Trainingseinheiten planen. Und Medizinprodukte überwachen Patienten, diagnostizieren Krankheiten und sagen personalisierte Behandlungserfolge voraus.

Bei diesen Anwendungen sind KI-basierte Algorithmen oftmals Teil eines größeren komplexen Systems.

Mitunter soll das KI-Modell als Teil dieses Systems eingesetzt werden, es kann aber auch zur Modellierung mit reduzierter Ordnung (Reduced Order Modeling, ROM) verwendet werden. Bei ROM handelt es sich um ein Mittel zur Reduzierung der Komplexität oder des Speicherbedarfs eines virtuellen Systemmodells bei gleichzeitiger Beibehaltung des erwarteten Genauigkeitsgrads bei einer kontrollierten Abweichung.

Ingenieure beginnen oft mit der Modellierung von Komponenten ihres Systems mithilfe wissenschaftlicher Grundprinzipien (ab initio). Der eigentliche Wert eines Modells nach den Grundprinzipien besteht darin, dass die Ergebnisse in der Regel eine klare, erklärbare physikalische Bedeutung aufweisen. Darüber hinaus können Verhaltensweisen im Allgemeinen auch parametrisiert werden.

In vielen Fällen ist ein realitätsnahes Modell jedoch zu rechenintensiv, um für den Entwurf auf Systemebene verwendet zu werden – insbesondere mithilfe von HIL- oder PIL-Tests, bei denen ein Modell in Echtzeit ausgeführt werden muss. Außerdem kann es zeitaufwendig sein, realitätsnahe Modelle zu erzeugen.

In diesen Fällen sollte die Erstellung eines KI-basierten Modells mit reduzierter Ordnung in Erwägung gezogen werden.

Ein realitätsnahes Modell eines Fahrzeugs ist Teil einer Simulation, die Regler, Umgebung und Antriebsblöcke umfasst, mit denen eine komplexe, langsam ablaufende Simulation erstellt wird. Ein alternatives, auf KI basierendes Modell mit reduzierter Ordnung, das das Auto ersetzt, ist ebenfalls dargestellt.

Erstellen Sie ein ROM, indem Sie ein Modell eines Automotors nach den physikalischen Grundprinzipien durch einen schnellen, KI-basierten Algorithmus ersetzen. ROM-Simulationen laufen schneller und bieten dennoch eine akzeptable Genauigkeit für die Prüfung von Regelungsalgorithmen auf Systemebene.

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Entwicklung von KI-basierten Modellen mit reduzierter Ordnung

Es gibt verschiedene Ansätze zur Erstellung von ROMs, darunter auch solche mit künstlicher Intelligenz:

  • Physikbasierte Reduktionsmodelle
  • Modellgestützte Verfahren
  • Nichtlineare Simulink-Modelle, die in bestimmten Funktionspunkten linearisiert sind
  • Datengestützte Ansätze, darunter:
    • Statische Ansätze wie Kurvenanpassung und Lookup-Tabellen
    • Dynamische Ansätze wie KI-basierte Modelle

Ein ROM kann ein nützliches Werkzeug sein. Folgende Möglichkeiten stehen Ihnen damit zur Verfügung:

  • Beschleunigung der Desktop-Simulation in Simulink, die durch ein realitätsnahes Modell eines Dritten beeinflusst wird.
  • Hardware-in-the-Loop-Tests (HIL) durch Reduzierung der Komplexität eines realitätsnahen Modells ermöglichen.
  • Integration von 2D- und 3D-Modellen aus anderen Tools in Simulationsmodelle auf Systemebene in Simulink.
  • Entwicklung eines KI-basierten virtuellen Sensormodells zur Verwendung in Steuerungssoftware, zur Fehlererkennung oder zur vorausschauenden Instandhaltung.
  • Durchführung von Steuerungs- und Regelungsentwürfen.
  • Beschleunigen der Berechnungen oder Optimierungen der Software für Finite-Elemente-Analyse (FEA) oder numerische Strömungsmechanik (CFD).

KI-basierte ROMs sind mit bestimmten Entwurfsaspekten verbunden. So bedarf es einer Vielzahl qualitativ hochwertiger Daten, um ein genaues KI-Modell zu erstellen. Selbst wenn diese präzise sind, werden KI-Modelle oft mit einer „Black Box“ oder in einigen Fällen mit einer „Grey Box“ verglichen. Das bedeutet, dass die Ergebnisse des Modells möglicherweise nicht immer erklärbar oder parametrisierbar sind. Ein KI-Modell ermöglicht es einem Ingenieur auch nicht, auf einfache Weise physikalische Kenntnisse über die Maschine in das Modell einfließen zu lassen.

Bei Modellen gibt es ein Spektrum der Erklärbarkeit, das von sogenannten Black Boxes, die keinen Einblick in Output-Entscheidungen gewähren,  über Gray Boxes, die einen gewissen Aufschluss geben, bis hin zu der vollständigen Transparenz eines Ab-Initio-Modells reicht.

Bei Modellen gibt es ein Spektrum der Erklärbarkeit, das von sogenannten Black Boxes, die keinen Einblick in Output-Entscheidungen gewähren, über Gray Boxes, die einen gewissen Aufschluss geben, bis hin zu der vollständigen Transparenz eines Ab-Initio-Modells reicht.

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Ersetzen eines Motormodells eines Drittanbieters nach Ab-Initio-Prinzipien durch ein KI-basiertes ROM

Nehmen wir an, Sie sind Teil eines Teams, das an der Entwicklung eines neuen Fahrzeugs arbeitet. In diesem Zusammenhang müssen Sie die Geschwindigkeit eines Fahrzeugs auf Grundlage verschiedener Eingaben und Bedingungen simulieren. Sie möchten hierfür ein Modell erstellen, das Komponenten enthält, die den Fahrer, die Straßenbedingungen, Regler sowie den Automotor darstellen.

Ein Kollege hat Ihnen ein Fahrzeugmotor-Subsystem zur Verfügung gestellt, das mithilfe von Tools von Drittanbietern modelliert wurde. Die daraus resultierende Simulation entspricht dem echten System mit einem hohen Genauigkeitsgrad. Allerdings fällt ihre Ausführung langsamer als erwartet aus.

Ein realitätsnahes Modell umfasst einen Fahrer, eine Umgebung, Regler und ein Auto mit einem komplexen Motormodell.

Eine Simulation der Fahrzeuggeschwindigkeit wird langsam ablaufen, wenn das Motormodell aus einem komplexen Modell besteht, das auf den physikalischen Grundprinzipien beruht.

Zur Beschleunigung Ihrer Simulationen während der Entwicklung und Optimierung anderer Systemkomponenten können Sie das kostspielige Motormodell eines Drittanbieters durch ein Surrogatmodell oder ein Modell mit reduzierter Ordnung ersetzen. Zur Entwicklung können verschiedene Techniken herangezogen werden, darunter physikbasierte (z. B. unter Verwendung von Simulink und Simscape) oder KI-basierte Methoden. Im Falle eines KI-Modells umfassen die Eingaben die Motordrehzahl, den Zündzeitpunkt, die Drosselklappenstellung sowie die Werte des Wastegate-Ventils. Die Ausgabe ist das Motordrehmoment.

Mithilfe von Varianten können Sie ganz einfach zwischen Komponenten umschalten, die mit verschiedenen Techniken erstellt wurden.  Mit Varianten können Sie Entwurfsoptionen vergleichen und die Genauigkeit und Leistung ins Gleichgewicht bringen, ohne Teile Ihres Modells auskommentieren zu müssen. So können Sie die Unterschiede besser verstehen und bessere Entscheidungen bei der Komponentenauswahl treffen.

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Datengenerierung und Training des KI-Modells

Zur Erstellung des KI-Modells ist es erforderlich, dieses mithilfe eines Datensatzes zu trainieren, der die relevanten Eingaben variiert und die gewünschte Ausgabe erzeugt. Sie können einen frei verfügbaren Datensatz oder auch experimentelle Daten aus Ihrem eigenen physischen Systemaufbau verwenden.

Darüber hinaus können Sie Ihre realitätsnahe Simulation auch zur Generierung von Daten verwenden. Zu diesem Zweck wird zunächst eine Reihe von Experimenten entworfen, bei denen die Modellparameter ausgewählt und ihre Wertebereiche variiert werden. So weisen beispielsweise Drehzahl, Zündzeitpunkt und Drosselklappenstellung jeweils unterschiedliche Bereiche auf. Erstellen Sie unter Verwendung der statistischen Versuchsplanung (Design of Experiments, DoE) eine Tabelle mit den möglichen Parameterkombinationen, führen Sie anschließend die Simulation durch und sammeln Sie die entsprechenden Daten.

Das komplexe Motormodell in der Systemsimulation wird durch ein KI-Modell ersetzt, das die gleichen Eingaben für Motordrehzahl, Zündzeitpunkt, Drosselklappenstellung und Wastegate-Ventil verwendet und das gleiche Motordrehmoment erzeugt.

Ersetzen eines realitätsnahen Modells durch ein KI-Modell.

Bei der Erstellung Ihres KI-Modells stehen Ihnen eine Reihe von verschiedenen Verfahren zur Verfügung. Sie können MATLAB beispielsweise für die Anwendung von Methoden des Machine Learning oder Deep Learning verwenden, wie LSTMs (Netzwerke mit Langzeitgedächtnis, rekurrente neuronale Netze, die in der Lage sind, die Abhängigkeit von der Reihenfolge bei Sequenzvorhersageproblemen zu erlernen), neuronale ODEs (Deep Learning-Operationen, die durch die Lösung einer gewöhnlichen Differentialgleichung definiert sind) oder nichtlineare ARX-Modelle (Modelle, die flexible nichtlineare Funktionen wie Wavelet- und Sigmoid-Netzwerke verwenden, um komplexes nichtlineares Verhalten zu modellieren).

Darüber hinaus können Sie auch mit anderen Open Source Frameworks interagieren, die zum Trainieren eines KI-Modells verwendet werden.

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Bereitstellung eines KI-ROM für Tests auf Systemebene

Sobald Sie Ihr KI-basiertes ROM erstellt haben, können Sie es für Tests auf Systemebene einsetzen.

Wenn Ihr Ziel darin besteht, die Entwicklung und Leistung der anderen Komponenten in Ihrem System zu testen, sollten Sie die Komponenten, die Sie entwickeln, auf der Zielhardware ausführen und das KI-Modell auf dem Desktop laufen lassen. Ein mögliches Hardware-in-the-Loop(HIL)-Setup umfasst:

  • Bereitstellung Ihrer Komponenten auf Zielhardwareplattformen
  • Ausführung Ihres KI-Modells auf einem Echtzeit-Computersystem
  • Verknüpfung der verschiedenen Systeme und Durchführung der Simulation, Überwachung der Signale und Anpassung der Parameter

Einmal entwickelt, ist das KI-Modell modular und wiederverwendbar. Ihre Kollegen, ob vor Ort oder an anderen Standorten, können Ihr KI-Modell auch für ihre Simulationen und Komponententests verwenden und so möglicherweise die parallele Entwicklung des Systems beschleunigen.

Embedded Systems werden auf der Zielhardware bereitgestellt. Das KI-basierte R O M wird auf einem Echtzeitcomputer bereitgestellt. Die Systeme interagieren in Simulink für Tests auf Systemebene.

Führen Sie Tests und Simulationen auf Systemebene durch, wobei die zu testenden Regler auf der Zielhardware laufen und das KI-basierte ROM, das das Anlagenmodell – in diesem Fall das Auto – unterstützt, auf einem Computer läuft.

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Auswahl eines KI-Verfahrens

Wenn es der Zeitplan zulässt, können Sie mehrere KI-Modelle mithilfe verschiedener Techniken erstellen und diese mit Simulink verfeinern. Mit dem Simulink Profiler können Sie beispielsweise feststellen, wie schnell jedes Modell auf einem Desktop-Computer läuft. Sie können ebenso die Ergebnisse des realitätsnahen Modells mit den KI-Modellen vergleichen, um die Genauigkeit zu beurteilen.

Damit Sie das beste Modell für Ihre Anwendung ermitteln können, ist es erforderlich, die Modelle zu implementieren und alle Metriken zu erfassen.

Bei der Wahl eines Modells steht nicht immer die Genauigkeit im Vordergrund. Sie müssen möglicherweise die Trainingsgeschwindigkeit, die Interpretierbarkeit, die Inferenzgeschwindigkeit oder die Modellgröße berücksichtigen. Unterschiedliche Methoden führen zu unterschiedlichen Ergebnissen – und jedes spezifische ROM bringt unterschiedliche Vor- und Nachteile mit sich.

Ein Diagramm zum Vergleich der Leistung von L S T M, neuronalem O D E und zwei nichtlinearen A R X-Modellen. Das nichtlineare A R X-Modell weist eine ausgezeichnete Inferenzgeschwindigkeit, Modellgröße und -genauigkeit, gute Interpretierbarkeit und im Vergleich zu den anderen Modellen eine geringere Trainingsgeschwindigkeit auf.

Verschiedene KI-Modelle des Fahrzeugmotor-ROM zeichnen sich durch unterschiedliche Leistungsprofile aus.

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